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19.08.2021

Interview mit Christian-Ludwig Weber-Lortsch

Gerade ist das neue Buch des ehemaligen deutschen Botschafter in Vietnam (2003 - 2007) im Springer-Verlag erschienenen.

Ludwig Graf Westarp / DVG: Warum haben Sie dem Hanoi-Kapitel in Ihrem Buch „Außendienst – Eine undiplomatische Zeitreise“ die Sätze „Geduld bringt den Erfolg.“ und „Der Mensch macht den Unterschied.“ vorangestellt (Pham Van Binh: Vietnamesische Sprichwörter)?

Christian-Ludwig Weber-Lortsch: Aus der Geschichte haben wir gelernt, dass in der Politik nicht immer der Schnellste gewinnt; auf den richtigen Zeitpunkt kommt es an. Dafür braucht man Geduld und Mut. Ho Chi Minh, der Vater des heutigen Vietnam, war ein Meister beider Disziplinen.

2007 endete meine Zeit als Botschafter in Vietnam. Zehn Jahre später bin ich nach Hanoi zurückgekehrt. Das Land hat sich verändert; es ist moderner und wohlhabender geworden. Meine alten Moped-Freunde sind jetzt stolze Autobesitzer, die Fernsehprogramme sind bunter.

Fortschritt kann man nicht befehlen. Gewiss, die Regierung setzt den Rahmen, aber die Erneuerung kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Wohlstand muss hart erarbeitet werden. Eltern rackern für die Ausbildung ihrer Kinder. In Deutschland gibt es zahlreiche vietnamesische Arbeiterkinder mit Einserabitur, Studium und Spitzenjobs, während einheimische Studenten in Berlin oder Leipzig häufig lieber von einem Leben mit viel Freizeit träumen. Der Mensch macht den Unterschied. Immer und überall.

Die Vietnamesen werden oft als „Preußen Südostasiens“ bezeichnet. Ist dieser Vergleich zutreffend?

Weber-Lortsch: Der Vergleich hinkt: Das historische Preußen war ein sehr komplexes, einzigartiges Gebilde, geprägt von Tradition und Reformen, Königstreue und Bürgerrechten, von Kriegen und Widerstand.

Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten: Vietnamesen sind pflichtbewusst und leistungsbereit; Eigenschaften, die auch uns Deutschen nachgesagt werden. Vietnamesen sind stolz auf ihr Land. Zu Recht. Sie sind selbstbewusste Bürger einer aufstrebenden Nation, keine Untertanen.

Nach all den Kriegen leben in unseren beiden Ländern heute mehr Händler als Helden. Der Wirtschaft tut das gut. In letzter Zeit habe ich viele jüngere vietnamesische Rückkehrer aus Deutschland getroffen. Voller Elan wollen sie das in der Fremde Erlernte in ihrer Heimat umsetzen. Mit einer Prise “preußischer“ Mentalität, was im Kollegen-, Freundes- und Familienkreis häufig zu wohlwollenden Neckereien führt: typisch, Linh die Deutsche.

China oder die USA – Welcher Einfluss wirkt stärker auf Vietnam und welche Rolle spielt Europa?

Die chinesischen Schriftzeichen in den Tempeln zeugen noch heute von den gemeinsamen kulturellen Wurzeln. Straßennamen in Hanoi erinnern an den tausendjährigen Unabhängigkeitskampf gegen den großen Nachbarn im Norden. Auf der neuen Autobahn brauche ich von meiner Haustür bis zur Grenze in Lang Son nur noch 3 Stunden. China ist der größte Handelspartner und verfügt über ein ähnliches politisches System. Man kennt sich.

Der Wiederaufstieg Chinas hat die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Machtverhältnisse verschoben. Wie einst im Kaiserreich werden die Geschicke der Anrainer-Staaten von Peking mitbestimmt. Tendenz: steigend.

Eine offene Konfrontation ist angesichts der Größenverhältnisse schwierig; selbst im Verbund mit ASEAN. Um Unabhängigkeit und Handlungsspielraum zu bewahren, setzt Vietnam auf eine strategische, aber weitgehend stille Diplomatie. Wirtschaftlich bieten japanische und koreanische Investoren ein Gegengewicht gegen die chinesische Dominanz. Die EU, gestärkt durch das neue Handelsabkommen, ist Vietnams zweitgrößter Exportmarkt; nach den USA. Politisch, oder gar militärisch, kann Brüssel aber mit den USA und China nicht mithalten. Das liegt an dem Prinzip der Einstimmigkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie unterschiedlicher Interessenschwerpunkte der europäischen Staaten. Ich glaube nicht, dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird.

Bleiben die USA. Bereits unter Trump wurden die Beziehungen zu Hanoi politisch, wirtschaftlich und auch militärisch aufgewertet. Biden setzt diese Politik mit Besuchen seines Verteidigungsministers und der Vizepräsidentin fort. Die wachsende Partnerschaft mit Amerika ist hier hochwillkommen; auch in der Bevölkerung. Dennoch vermeidet es Hanoi, sich zwischen Washington und Peking zu entscheiden oder gar ein förmliches Bündnis mit dem ehemaligen Kriegsgegner einzugehen.

Was bedeutet „Made in Germany“ in Vietnam?

„Made in Germany“ steht für Qualität und Haltbarkeit. Wer es sich leisten kann, kauft gerne unsere hochwertigen Produkte. Das lohnt sich und hebt zugleich den sozialen Status. Schwieriger ist es bei den weniger sichtbaren Investitionsgütern und industriellen Vorprodukten: Da punkten unsere asiatischen Konkurrenten häufig über den Preis. Selbst deutsche Unternehmen müssen vielfach mit asiatischen Komponenten anbieten, um im Wettbewerb zu bestehen.

Andererseits können auch deutsche Unternehmen in der Region von den neuen Freihandelsabkommen profitieren und zollfrei handeln: „Made in Vietnam“ mit deutschem Qualitätssiegel. Das ist offenbar auch die Philosophie von VinFast, dem neuen vietnamesischen Autohersteller in Haiphong. Mit Technik, Bauteilen und einem neuen Chef aus Deutschland will man ausländische Marktanteile erobern.

Welche Rolle sollte Europa im Konflikt im Südchinesischen Meer spielen?

Deutschland und die EU treten für die strikte Einhaltung des UNO Seerechts-Übereinkommens (UNCLOS) ein: freie Durchfahrt und friedliche Streitbeilegung. Hinsichtlich der Gebietsansprüche verschiedener regionaler Anlieger ergreifen wir nicht Partei. Der Seegerichtshof hat jedoch bereits 2016 auf Antrag der Philippinen den chinesischen Alleinvertretungsanspruch auf Grund der sogenannten 9-Punkte-Linie zurückgewiesen.

China ignoriert die Entscheidung und schafft Fakten: Die beanspruchten Inseln werden ausgebaut und militärisch befestigt. Peking versucht, die Durchfahrt internationaler Seewege und Überflugrechte einzuschränken. Zusammen mit der Gewaltandrohung gegenüber Taiwan ist diese Kanonenboot-Politik im Stil des 19. Jahrhunderts brandgefährlich.

Sind in Vietnam eher nationale oder globale Ideen auf dem Vormarsch?

Als wichtiges Glied internationaler Lieferketten gehört Vietnam zu den Gewinnern der Globalisierung. Auf internationaler Bühne zeigt sich das Land engagiert und kompromissfähig. Als Mitglied im VN Sicherheitsrat (2020-2021) macht Hanoi eine gute Figur.

Dennoch gilt: Vietnam zuerst! Die Regierung würde kein Abkommen unterzeichnen oder umsetzen, das den eigenen Interessen zuwiderläuft. Auch die Bevölkerung denkt so. Hier käme niemand auf die Idee, die nationale Fahne durch einen Regenbogen zu ersetzen. Vietnamesen sind Patrioten, keine Nationalisten: Sie lieben ihr eigenes Land, ohne deshalb auf andere herabzusehen.

Globale Ideen und Trends verbreiten sich vor allem in der jüngeren Generation: Bei einem Bummel durch Hanoi entdeckt man vegane Restaurants, Yoga Studios, Naturkosmetik, Umweltaktivisten, Reklame für Öko-Resorts in den Bergen, hippe Cafés und hochpreisige Angebote der Wellness- und Schönheitsindustrie. Die work-life-balance ist auch hier auf dem Vormarsch. Klingt sympathisch, aber ich bin mir nicht sicher, ob sich Vietnam diesen Import aus westlichen Wohlstandsgesellschaften leisten kann. Auch in Deutschland müssen wir die Ärmel hochkrempeln, wenn wir nach Corona wieder auf die Erfolgsspur kommen wollen. Wie heißt es so schön: Wer rastet, der rostet.

Warum sind trotz Vietnams Bemühungen, ausländische Investitionen ins Land zu holen, deutsche Firmen immer noch zögerlich?

Die EU hat mit Vietnam bereits vor zwei Jahren ein umfassendes Investitionsschutzabkommen abgeschlossen, das noch ratifiziert werden muss. Zusammen mit anderen Vereinbarungen besteht ein stabiler internationaler Rechtsschutz.

Dennoch, der Teufel liegt im Detail. Abkommen müssen umgesetzt und mit Leben erfüllt werden. Noch immer ist Ausländern in vielen Bereichen ein ungehinderter Zugang verwehrt. Genehmigungen und Landnutzungsrechte bereiten selbst erfahrenen Geschäftsleuten Kopfschmerzen. Die Wege der Bürokratie sind häufig noch holprig, lang und verschlungen.

Andererseits: Mit guten lokalen Partnern sind fast alle Probleme lösbar. Asiatische Investoren wissen das. Japan und Korea haben zusammen zehnmal soviel investiert wie die gesamte EU. Deutsche Unternehmen sind zunehmend risikoscheu. Die der Geschäftsleitung unterstellten Compliance-Beauftragten wittern überall Gefahren; Frankfurter Banken sind vorsichtig. Es sind vor allem Familienunternehmer, die sich nach sorgfältiger Abwägung und lokaler Beratung für ein Engagement in Vietnam entscheiden. Dabei spielt zunehmend auch die regionale Vernetzung eine Rolle. Die Regierung bemüht sich, die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern. Ich bin sehr optimistisch. Vietnam hat die Chance, in den zwanziger Jahren einen Spitzenplatz in der Region zu erobern.

Deutsche Bauunternehmen bekamen in der Vergangenheit den Zuschlag für Projekte wie das neue Kongresszentrum, das Stadtmuseum und das Parlament in Hanoi. Dies führte zu Anschlussverträgen für deutsche Mittelständler. Warum ist dies heute eher die Ausnahme?

Es gibt kaum noch deutsche Unternehmen, die im Ausland Großprojekte wie Flughäfen, U-Bahnen und Konferenzzentren schlüsselfertig bauen und betreiben. Die genannten prestigeträchtigen Bauwerke in Hanoi wurden von renommierten Planungs- und Architekturbüros aus Rostock und Hamburg zusammen mit vietnamesischen Unternehmen erstellt. Gelegentlich kamen auch deutsche Mittelständler zum Einsatz. Ich erinnere mich noch an die Bühnentechnik aus Berlin im Konferenzzentrum sowie die deutsche Akustik und Konferenztechnik im Nationalen Parlament. Anders als ein Generalunternehmer können unsere Planer und Architekten aber über die Zulieferer und Subunternehmer nicht alleine entscheiden. Das letzte Wort liegt beim lokalen Partner.

Eine Ausnahme bildet das 2019 eingeweihte Deutsche Haus in Ho-Chi-Minh-Stadt. Es trägt seinen Namen zu Recht: Das deutsch-vietnamesische Leuchtturmprojekt ist ein Schaufenster unserer innovativen Ingenieurkunst und Gebäudetechnik sowie Zentrum und Sprungbrett für die deutsche Wirtschaft.

Im ersten Jahr Ihrer Botschafterzeit kam gleich der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder nach Vietnam. Während seines Besuchs wurde unter anderem das Goethe-Institut in Hanoi eingeweiht. Welche Rolle spielt das Goethe-Institut heute?

Stimmt. Gerhard Schroeder wurde von den überwiegend jugendlichen Besuchern seinerzeit wie ein Popstar gefeiert. Er genoss das Bad in der Menge und wir blieben viel länger als geplant. Unsere Kernbotschaft an die Vietnamesen war: Das ist euer Institut, ihr müsst das Haus bespielen.

Und heute? Der Sprachunterricht brummt, auch in Danang und HCMC. Trotz Corona-Delle bleiben Studium, Ausbildung, Arbeitsaufnahme und Tourismus in Deutschland attraktiv. Unser Feundschafts-Netzwerk wächst; aber es muss gepflegt werden. Auch von der Deutsch-Vietnamesischen Gesellschaft in Berlin.

Die Kulturarbeit gedeiht. Zu meiner Zeit gab es noch Probleme, als Georg Baselitz seine Bilder verkehrt herum aufhängen wollte. Das störte den Ordnungssinn der Kulturbehörden. Inzwischen kennen wir uns besser. Auch vietnamesische Maler und Musiker provozieren gelegentlich. Künstler sind keine Diplomaten. Was sie nicht daran hindert, stolz auf ihr Land zu sein. Vietnam braucht offene Köpfe, um in der modernen Welt zu bestehen. Goethe bietet eine Plattform für den internationalen Kultur-Austausch. Vom kleinen Workshop über Hip-Hop bis zur Gala in der Oper.

Welche Bedeutung hat die Bia-Hoi-Kultur, der Golf- oder Tennisplatz und das Karaoke-Singen in Vietnam?

Botschafter in Hanoi, das war ein Job mit Vollpension: fast jeden Abend unterwegs fürs Vaterland. Aber das reicht nicht, um eine fremde Kultur zu verstehen. Dazu braucht man eigene private Kontakte und Freunde. Die trifft man nicht auf Nationalfeiertagen in 5-Sterne-Hotels. Deshalb habe ich meine Freizeit lieber auf dem Golf- oder Tennisplatz verbracht. Beim Sport entsteht eine Kameradschaft, die kulturelle- und soziale Barrieren überwindet. Ähnliches gilt für gemeinsame Bia-Hoi-Besuche: da habe ich mehr über Land und Leute gelernt als sprachkundige Experten, die nur zwischen Residenz und Ämtern pendeln.

Man muss sich auf die lokalen Bräuche einlassen. Trotz fehlender Begabung bin ich zum Karaoke mitgegangen. Lustig war es immer. Es dauert, bis man als Fremder akzeptiert wird. Aber es lohnt die Mühe: Noch heute pflege ich Freundschaften, die einst im „off“ entstanden sind. Die Namen der meisten diplomatischen Kollegen habe ich dagegen vergessen.

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